Diese Bilder gingen kurz vor dem Jahreswechsel durch alle Medien: Christoph Wenisch, Chef der ersten Wiener Covid-Station, schreitet im Beisein zahlreicher Medienvertreter unter den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ zur Covid-Impfung. Als er sich die Spritze setzen lässt, formt er mit den Fingern der freien Hand ein V für Victory. Auf einem anderen Foto reckt er die geballte Faust gen Himmel. Gesten energetischer, kraftvoller Siegesgewissheit. Kein Zweifel, hier wird ein Triumph gefeiert.
Nun könnte man meinen, eine solche Emphase sei verständlich für einen Arzt, der an vorderster Front miterlebt hat, was eine Covid-Erkrankung anrichten kann, und der selbst einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt ist. Da können schon die Sektkorken knallen und Götterfunken der Freude über die Krankenhausgänge sprühen. Dennoch liegt etwas Seltsames, ja Befremdliches über dem Triumphalismus dieser Gesten. Da wird ein Mediziner immunisiert gegen eine Krankheit, an der er Menschen leiden und sterben gesehen hat. Wäre angesichts dessen nicht eine ganz andere Reaktion zu erwarten gewesen, etwa eine ins Bodenlose sackende Erleichterung, begleitet von einer matten Traurigkeit, weil für manche die Impfung leider zu spät gekommen ist? Jene Mischung aus Erschöpfung nach etwas Überstandenem und dem vagen Schauder, gerade noch einmal davongekommen zu sein?
Nach der Injektion wird Wenisch gefragt, wie er sich jetzt fühle. „Super war’s, so wie bei einem Zieleinlauf. Der Kanzler hat eh gesagt, es ist ein Marathonlauf, den wir jetzt rennen müssen.“ Ob er die Impfung für einen „Game-Changer“ halte? „Nein, das ist kein Game-Changer“, antwortet er, „das Spiel ist beendigt, das ist aus, Game over!“ Jetzt gehe es eigentlich nur noch darum, „dass sich das alle reinziehen“. Inzwischen haben sich viele Menschen den Impfstoff „reingezogen“, doch es sind ein paar Stolpersteine auf dem Weg zum Spielende aufgetaucht. Wie etwa umgehen mit Astra Zeneca? Ich war zufällig Zeuge, wie eine Ärztin einer Kollegin den Rat gegeben hat: „Nimm nicht Astra Zeneca, das ist das herkömmliche Zeug, warte lieber auf den coolen Stoff!“ Ach, wäre das Zeug nur herkömmlich, dann wäre es wenigstens erprobt. Doch das ist Astra Zeneca ebenso wenig wie die anderen Impfstoffe. Ich frage mich, was die Ärztin wohl den Angehörigen jener Menschen sagen würde, die nach der Impfung an einer Thrombose verstorben sind. Vielleicht: „Sorry, war leider nicht der coole Stoff fürs Game over.“
In den Sozialen Medien kursieren derzeit viele Fotos von Menschen mit entblößten Armen und Victory-Zeichen. Oft sehen sie enthusiasmiert aus, als hätten sie gerade einen Preis gewonnen oder ein Diplom verliehen bekommen. Nicht selten werden Impfparties angekündigt, Initiationsfeiern zur Aufnahme in den Kreis der immunisierten Herde.
Wenn ich die Geimpften und die Impfwilligen in meiner Umgebung frage, was der Grund für ihre Entscheidung sei, bekomme ich meist zwei verschiedene Antworten, eine fadenscheinige und eine authentische. Es gehe darum, andere nicht anzustecken, einen Beitrag zu leisten zur Herdenimmunität, sagen einige. Wenn ich dann zu bedenken gebe, dass das geimpfte Gesundheitspersonal auf der Station der besagten Ärztin sich weiterhin testen lassen und Maske tragen muss, weil nicht sicher sei, ob die Impfung eine sterile Immunität herstelle und die Infektionsketten durchbreche, dann folgen meist ein Ausdruck geradezu flehentlicher Resignation und die ehrliche Antwort auf dem Fuße: Man wolle doch einfach nur, dass der ganze Irrsinn endlich ein Ende hat! Egal, ob Game-Changer oder Game over, Hauptsache, nach der Impfung wird wieder so gespielt wie in der Zeit vor Corona. Wer kann es ihnen verdenken? Die Menschen sind müde und zermürbt nach einem Jahr voller Einschränkungen und apokalyptischer Dauerpropaganda. Sie wollen ihr Leben zurück, wieder reisen, ins Kino gehen, ins Gasthaus, ins Kaufhaus. Sie sehnen sich nach einem Eintrag im grünen Pass, grün ist die Hoffnung.
Vom händeringenden Bekenntnis der Sehnsucht nach Normalität bis zum sportlichen Fäusterecken reicht das Spektrum der Gesten rund um den coolen Stoff. Als Soundtrack zur Impf-Show dient Tanzmusik auf der Impfparty ebenso wie die Ode an die Freude, die zum Hymnus auf die erlösende Allmacht der High-Tech-Medizin wird. Die demütige Ruhe, die eigentlich die nahende Rettung aus der viel beschworenen größten Not seit hundert Jahren begleiten müsste, bleibt aus. Die Hysterie, die seit einem Jahr pausenlos medial rund um das Virus aufgebaut wird, entlädt sich in exaltierten Gesten.
Kaum jemand versteht sich besser auf die Inszenierung kontrollierter Botschaften und Rituale als Sebastian Kurz. Und niemand beherrscht das Spiel mit der geschürten Angst besser als er. „Bitte Vollgas geben!“, war sein Auftrag an seinen Freund und Mitstreiter Thomas Schmidt, als der sich daran machte, den Generalsekretär der Österreichischen Bischofskonferenz einzuschüchtern. Und „Super, danke vielmals!!!!“ war Kurz‘ Antwort, als Schmidt ihm mitteilte, dass der erfolgreich Geängstigte zunächst „blass, dann rot, dann zittrig“ geworden sei. Gleichzeitig versteht Kurz sich bestens darauf, nach dem Spiel mit der Angst die nahende Rettung aus der Not zu verheißen. Schon mehrmals hat er in der Coronakrise allerlei Beleuchtung am Ende des Tunnels versprochen.
Jetzt will er selbst das Licht sein und als leuchtendes Vorbild voranschreiten. Darum hat er angekündigt, sich mit Astra Zenca impfen zu lassen. Was für eine Inszenierung! Eine Geste des opferbereiten Edelmuts, entsprungen aus dem lauteren Gefühl staatsmännischer Verantwortung, was sonst? Ein junger gesunder Mann in der Blüte seiner Jahre, der den Schutz einer Impfung eigentlich gar nicht bräuchte, lässt sich öffentlich ein Serum injizieren, das sehr wahrscheinlich schon mehrere Menschen seines Alters getötet hat. Ein echtes Vorbild für die Jungen und Junggebliebenen im Lande. Auf dass auch sie sich in der Blüte ihrer Jahre einem solchen Risiko aussetzen und frisch gepiekst und gepierct in die Herde der Immunen Einlass finden.
Irgendwie passt diese obszöne Inszenierung zu einem Politiker, der schon mehrmals bewiesen hat, dass er zum Vabanquespiel mit hohem Risiko neigt und bei fallenden Umfragewerten gern alles auf eine Karte setzt. Diesmal ist es ein öffentlichkeitswirksames Roulettespiel mit der eigenen Gesundheit. Aber keine Sorge, die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel auf einem Minenfeld landet, steht eh nur eins zu Wer-weiß-wieviel. Doch ist der Einsatz erst gemacht, dann heißt es für alle: „Rienne ne va plus!“