Der Schauspieler und „Tatort“-Pathologe Jan Josef Liefers hat sich mit seiner Beteiligung an der Aktion „Alles dichtmachen“ einen veritablen Shitstorm eingehandelt. Was hatte er verbrochen? In seinem Beitrag hat er die Einseitigkeit der Medienberichterstattung und die selektive Auswahl der Politikberater satirisch aufs Korn genommen. Tags darauf wird er im WDR zur Rede gestellt, in einem Dialog, der eher an ein inquisitorisches Verhör als ein Interview erinnert. Der Moderator Martin von Mauschwitz wirft ihm vor: „Die vielen Menschen, die im Moment hart arbeiten, die Opfer bringen in dieser Pandemie, die in den Intensivstationen Arbeitstage haben, dagegen ist Ihrer und meiner im Moment ein Kindergeburtstag, die werden mit der ganzen Aktion verhöhnt als dumme Untertanen, die sich von der Regierung was einreden lassen.“ Und er fügt hinzu: „Ich sehe, was in den Intensivstationen passiert. Und dann sind da ein paar wohlsituierte Schauspieler, die sagen: ‚Ach komm, wir hauen mal einen raus.’“
Was ist das für ein Argument? Wie kann ein Blick in die Intensivstationen die Behauptung widerlegen, die Medien würden einseitig berichten? Inwiefern verhöhnt jemand das Intensivpersonal, obwohl er weder die Krankenhäuser erwähnt noch die Krankheit verharmlost? Und seit wann darf ein Schauspieler nicht mehr die Politik kritisieren, nur weil er besser situiert ist als ein Krankenpfleger? Mit welchen moralischen Gewichten hantiert eine solche Argumentation? Was passiert hier?
Ende Februar brachte das ZDF einen Beitrag zum Thema Corona-Impfung, Titel: „Das sagen Impfskeptiker und -gegner.“ Die Sendung beginnt in der Praxis des Münchener Kinderarztes Steffen Rabe, der auch Sprecher des „Vereins Ärzte für eine individuelle Impfentscheidung“ ist. Man sieht den Arzt bei der Behandlung eines kleinen Mädchens, Kindermusik erklingt, Bilderbücher und Spielzeug liegen herum.
Befragt nach seiner Haltung zur Corona-Impfung, sagt der Arzt, er sei nicht prinzipiell gegen Impfungen. Aber bei den Corona-Wirkstoffen habe er große Bedenken, zu viele wichtige Fragen zu Schutzwirkung und Nebenwirkungen seien noch offen. Er selbst werde sich jedenfalls nicht gegen Corona impfen lassen, mit seinen 55 Jahren zähle er sich nicht zur Risikogruppe. Darauf die Interviewerin: „Also sorgen Sie sich mehr vor dem Impfstoff als vor der Krankheit selbst?“ Rabes Antwort: „Wir reden unverändert über eine Erkrankung, die bei 85 bis 90 Prozent derer, die sie bekommen, unbemerkt oder harmlos verläuft, aller Hysterie zum Trotz. Wir reden nicht über Ebola, wir reden nicht über die Pest.“
Unmittelbar darauf folgt ein Schnitt, die Kamera schwenkt zu bedrohlich synthetischer Hintergrundmusik über die Fassade eines Krankenhauses, während eine Stimme aus dem Off sagt: „Hier machen sie tagtäglich aber ganz andere Erfahrungen.“ Schauplatz: das Klinikum der Technischen Universität München, Covid Intensivstation. Eine Pflegerin taucht auf, sie wird eingeführt mit den Worten: „Kaum einer ist dem Virus so ausgeliefert wie die Krankenschwestern und -pfleger.“ Die Schwester wird bei der Betreuung eines reglos daliegenden Intensivpatienten gefilmt. Dann wird sie nach ihrer Meinung zu den Coronaleugnern befragt, vor allem zu der „kleinen, aber sehr lauten Gruppe der Impfkritiker/innen“. Sie sei unfassbar wütend, antwortet sie.
Gegen Schluss der Sendung wird ein eindeutiges Resumée gezogen: „Am Ende zeigt die hitzige Impfdebatte deutlich: Die kleine Gruppe der radikalen Impfgegner scheint immun zu sein gegenüber Überzeugungskraft und Fakten.“ Worauf beruht nun diese Überzeugungskraft, was sind die Fakten? Zunächst einmal fällt auf, dass keiner der in der Sendung auftretenden Impfbefürworter mit den Argumenten des Kinderarztes konfrontiert wird. Es wird mit stärkeren Bandagen gekämpft. Und was könnte überzeugender sein als der Blick in den Alltag einer Intensivstation? Nur: Welche Art von Überzeugungskraft besitzt eigentlich eine Intensivbehandlung, worauf beruht ihre unbedingte Macht, jedes Argument außer Kraft zu setzen?
Der klinische Intensivbereich ist die winzige Spitze der Gefährdungspyramide, die gleichsam in den Himmel ragt, jene überaus fragile Sphäre in der High-Tech-Medizin, in der es buchstäblich um Leben und Tod geht. Ein Schwellenort in einem Alptraumszenario, nicht nur für die Patienten, auch für das Ärzte- und Pflegeteam.
Die Strategie der ZDF-Sendungsmacher ist eindeutig: Eine Behauptung mag in der harmlosen Atmosphäre einer Kinderarztpraxis ihre Berechtigung haben, doch angesichts der Schrecken einer Intensivstation büßt sie augenblicklich jede Überzeugungskraft ein. (Hier klingt die Kindergeburtstags-Rhetorik aus dem Interview mit Liefers an.) Das Perfide an dieser Argumentation ist, dass sie keine ist. Denn hier wird keine Tatsachenbehauptung entkräftet, es wird nur der Tatsachensinn außer Kraft gesetzt.
Die Behauptung des Kinderarztes, Corona verlaufe für den Großteil der Infizierten harmlos, wird mit dem Geschehen auf einer Intensivstation konterkariert. Der Kommentar: „Hier machen sie tagtäglich aber ganz andere Erfahrungen“ ist schlichtweg falsch, ja unsinnig. Denn wie sollte das Intensivpersonal die reale Erfahrung machen, für wie viele Menschen außerhalb des Spitals die Krankheit gefährlich ist? Hier erlebt man, welche Folgen Covid 19 für ein überaus kleines Spektrum von unglücklichen Patienten haben kann. Nicht mehr und nicht weniger. Ein klassischer Fall von Kontext-Reframing: Es wird nichts widerlegt, es wird nur der Schauplatz gewechselt, dorthin, wo einem der Atem stockt und das Urteilsvermögen auf der Stelle gelähmt ist. Die Sendungsmacher begegnen einer Argumentation mit Manipulation. Ihre Strategie setzt nicht auf Einsicht, sondern auf Einschüchterung, nicht auf Überprüfung, sondern auf Überwältigung. Hat’s dem anderen erst einmal die Sprache verschlagen, dient das als Beweis dafür, dass ihm die Argumente ausgegangen sind.
Die Kontextverschiebung hat aber noch eine andere, nicht minder perfide Funktion. Sie führt nicht nur in die klamme Sphäre der Angst, sondern auch in das alles zersetzende Säurebad der Schuld. An einer Stelle des ZDF-Beitrags wird den Impfskeptikern eine ordentliche Portion Häme ins Gewissen geträufelt. Sie würden getreu dem Motto agieren: „Um die Herdenimmunität können sich erst mal die anderen kümmern.“ Wer also seinen Beitrag nicht leistet, ist schuld daran, dass die Herde nicht gehütet wird. Zwar liegt die Scheinmoral eines solchen Appells auf der Hand, da ja jeder Geimpfte vor schwerem Verlauf geschützt ist, er braucht also keine Angst mehr zu haben, weder vor dem Virus noch vor den Nichtgeimpften. Doch wer für einen solchen Gedanken zugänglich bleiben will, der muss sich erst aus der Umklammerung durch Schuld und Angst lösen. Wie aber immunisiert man sich gegen ein Totschlagargument?
Um Sinn und Plausibilität geht es jedenfalls nicht, schon gar nicht um die Bemessung der realen Gefahr. Es geht um Schuld, um größtmögliche Schuld, schuld zu sein am Sterben anderer. Wer solche Schuld auf sich lädt, indem er sich nicht impfen lässt oder weil er die Einseitigkeit in Politik und Medien kritisiert, der hat jedes Recht verspielt, Teil der Herde zu sein. Bei der viel beschworenen Herdenimmunität ist offenbar die Zugehörigkeit zur moralischen Herde mindestens so wichtig wie die Teilhabe an der Immunität.