„Wir sind im Krieg!“, verkündet der französische Präsident Macron. Die österreichische Verteidigungsministerin Tanner beruft die Miliz ein als „strategische Reserve der Republik“. Italiens Premier Conte ist erschüttert über „Hunderte von Särgen mit den Gefallenen dieses Krieges“. Nein, nicht vom Ukraine-Krieg ist hier die Rede, die Zitate liegen gut zweieinhalb Jahre zurück. Macron: „Wir kämpfen weder gegen Armeen noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da – und er rückt vor.“ Dieses hysterische Kriegspathos gleich zu Beginn der Pandemie erschien mir derart befremdlich, dass darüber ich einen Artikel im Standard geschrieben habe.
Jetzt herrscht wirklich Krieg, die russische Armee ist in die Ukraine einmarschiert. Und ich gestehe: Im Gegensatz zum „Krieg“ gegen das Virus habe ich zu diesem realen, blutigen Krieg keine feste Meinung. Ich bin unschlüssig, ob Waffenlieferungen an die Ukraine sinnvoll sind oder nicht. Auf der einen Seite überzeugt mich das Argument, dass man gegen einen brutalen Aggressor wie Putin ein Zeichen setzen und die überfallenen Ukrainer unterstützen muss. Auf der anderen Seite leuchtet mir der Einwand ein, dass dauernde Waffenlieferungen den Krieg nur in die Länge ziehen und dass dadurch in langen Materialschlachten noch viel mehr Menschen ihr Leben verlieren werden.
Ebenso bin ich in der Frage der Sanktionen unschlüssig. Irgendetwas müssen wir doch tun, sonst ermutigen wir Putin womöglich zu weiteren Kriegsakten. Andererseits: Wann hätten Sanktionen je das Intendierte bewirkt? Haben die jahrelangen Sanktionen gegen Nordkorea oder gegen den Iran die Regime auch nur ins Wanken gebracht? Und schaden wir mit unseren Sanktionen gegen Russland am Ende womöglich uns selbst mehr als dem Aggressor?
Fragen über Fragen, auf die ich keine rechte Antwort weiß. Umso mehr würde ich mir für meine Meinungsbildung eine ausgewogene öffentliche Diskussion über die Angelegenheit wünschen. Aber die gibt es nicht, im Gegenteil! Sobald mögliche Auffassungsunterschiede in Bezug auf Waffenlieferungen oder Sanktionen auch nur am Horizont auftauchen, wird bei Politikern und Journalisten schweres rhetorisches Geschütz aufgefahren.
Drei Beispiele dazu: Bei der Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen sprach sich Bundespräsident van der Bellen gegen eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland aus und sagte wörtlich: „All jene, die jetzt insgeheim oder ganz ungeniert mit den Interessen Putins sympathisieren oder tatsächlich kollaborieren, gefährden unseren Zusammenhalt.“
Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, wird im ORF-Sommergespräch noch eine Spur deutlicher, als sie auf die Kritik der Opposition an den Sanktionen angesprochen wird: „Die willfährigen Putin-Gehilfen, in Europa die Rechtsradikalen, in Österreich halt die FPÖ, ich höre es auch von den Impfgegnern, das sind Volksverräter.“
Auch Grünen-Chef Werner Kogler kennt kein Halten mehr, als er im Gespräch mit der „Kronen Zeitung“ auf die Kritiker der Sanktionen zu sprechen kommt: „In der Ukraine gibt es Vergewaltigungen, Kinder, die getötet, und Gefangene, denen die Hoden abgeschnitten werden. Wenn das bei einem nichts mehr erzeugt, dann sollen sich diese Leute aus der Politik schleichen.“
Auffallend an diesen Statements ist eine emotional aufgeladene Begrifflichkeit, die ihr moralisches Gewicht aus historischen Sprachschichten schöpft. Die Ankläger verwenden ungewöhnliche Worte, die bereits aus ihrem Sprachschatz verschwunden waren und nun mit umso grellerer, künstlich anmutender Leuchtkraft wieder auftauchen.
Van der Bellen wirft den Kritikern der Sanktionen vor, sie würden kollaborieren, sie seien also Kollaborateure. Laut Duden ist ein Kollaborateur jemand, „der mit dem Kriegsgegner, der Besatzungsmacht gegen die Interessen des eigenen Landes zusammenarbeitet“. Da drängt sich die Frage auf: Ist Putin eigentlich unser Kriegsgegner? Ist Russland eine Besatzungsmacht, die Österreich okkupiert hat? Denn van der Bellen hat schließlich die Bürger seines eigenen Landes als Kollaborateure bezeichnet, sofern sie in Bezug auf den Ukrainekrieg die falsche Gesinnung haben. Überdies stellt sich die Frage: Was sind denn hier die Interessen des eigenen Landes? Ist es nicht im ureigensten Interesse gerade eines neutralen Landes, dass die Kampfhandlungen so bald wie möglich eingestellt werden? Ist es in unserem Interesse, dass das eigene Land infolge der Sanktionspolitik in eine unberechenbare Energie- und Wirtschaftskrise gerät?
Aber genau diese Fragen werden unter der Wucht des Wortes Kollaborateur obsolet. Wer sie stellt, hat sich bereits moralisch diskreditiert. Er wägt noch ab, obwohl doch längst das Urteil gefällt ist. Wer argumentiert, der kollaboriert.
Noch deutlicher wird das in Meinl-Reisingers Wahl des Wortes Volksverräter. Zunächst einmal fällt auf, dass sie damit einen Begriff verwendet, der in ihrem politischen Milieu längst obsolet geworden ist. Beispielhaft steht hier das Verdikt des deutschen Wirtschaftsministers Habeck. Der Grünpolitiker wurde 2018 in einem Interview gefragt, was ihm spontan zum Begriff „Volksverräter“ einfalle. Antwort: „Das ist ein Nazibegriff. Es gibt kein Volk, und es gibt deswegen auch keinen Verrat am Volk. Das ist ein böser Satz, um Menschen auszugrenzen und zu stigmatisieren.“ Interessant, dass auch seine Partei- und Ministerkollegin Annalena Bearbock gerade erst das Volk, das es nicht gibt, wiederentdeckt hat. Befürchtet sie doch explizit Volksaufstände als Reaktion auf die Politik ihrer Regierung.
Noch bis vor Kurzem hätte Meinl-Reisinger den Begriff Volk niemals verwendet. Er ist längst durch die Bevölkerung ersetzt. Und wenn die verlorene volkstümliche Emphase wieder einmal herhalten muss, etwa in sozialen Belangen, dann wendet man sich an die Menschen da draußen oder an den kleinen Mann, der gleichfalls vom Aussterben bedroht ist, weil er sich beim besten Willen nicht gendern lässt.
Warum also verwendet Meinl-Reisinger einen Kampfbegriff, den Habeck für einen Nazibegriff hält? Weil sie offenbar in ihrem empört-exaltierten Ausnahmezustand keine Worte findet, die aus ihrem gewohnten Sprach- und Denkhorizont erwachsen. Weil hier plötzlich jemand verraten sein soll, den es in ihrem politischen Kosmos eigentlich gar nicht gibt: das Volk. Im Übrigen: Übt ein Volksverräter nicht stets Verrat am eigenen Volk? Welches Volk wird denn verraten, wenn jemand an den Sanktionen gegen Russland Kritik übt? Das österreichische? Oder wird ein Österreicher, der Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt, am Ende zu einem ukrainischen Volksverräter? So wie die Befürworter der Sanktionen gleichsam zu Ukrainern werden, wenn sie ihre Social-Media-Profile mit der blau-gelben Flagge schmücken.
Das Ausmaß, wie hier die elementare Denk- und Sprachlogik verletzt wird, deutet auf eine tiefe innere Verwirrung hin. Denn nichts ist verräterischer als die Sprache. Wer krude denkt, verwendet krude Begriffe. Wer sich zu einer Empörung aufbläht, die gedanklich auf Sand gebaut ist, gebiert am Ende Begriffs-Popanze wie den „Kollaborateur“ oder den „Volksverräter“. Eine Funktion haben solche Worte zweifellos: Durch die größtmögliche moralische Diskreditierung des Andersdenkenden entzieht sich der verbal Um-sich-Schlagende jeder weiteren Diskussion. Das Wort setzt ihn ins Recht, und zwar in jedes nur denkbare Recht.
Wo van der Bellen und Meinl-Reisinger immerhin noch etwas auf den Begriff zu bringen suchen, fasst Vizekanzler Werner Kogler mit der ihm eigenen Subtilität das Gemeinte ins Bild: Wie will man noch mit Leuten diskutieren, denen es egal ist, dass Kinder ermordet, Frauen geschändet und Gefangene kastriert werden? Ich denke, hier erübrigt sich in der Tat jede Diskussion.
Nun ist die größtmögliche Diffamierung des Andersdenkenden ja kein völlig neues Phänomen. Sie war ein mit stetig wachsender Vehemenz praktiziertes Mittel in der Pandemie. Bei Meinl-Reisinger klingt der Corona-Bezug ja bereits an: Rechtsradikale und Impfgegner werden in einem Atemzug zu den Volksverrätern gezählt. Wer die Maßnahmen kritisierte, wer die Impfung ablehnte, war bestenfalls ein Covidiot, schlimmstenfalls ein mit Rechtsradikalen kollaborierender Saboteur der Volksgesundheit.
So leicht verabschiedet man sich eben nicht von dieser toxischen Mischung aus Adrenalin und Moralin, die alle Zeugen Coronas missionarisch beseelt hat. Der erklärte Krieg gegen das Virus ist nahtlos in einen Krieg gegen den Russen übergegangen. Der Schritt vom Verschwörungstheoretiker zum Verschwörer ist nicht weit. Pandemie-Verharmloser und Putin-Versteher – alles die gleiche Bagage.
Die perfideste Verbindung von Pandemie und Putin hat sich indes der Kabarettist Florian Scheuba geleistet, als er im Standard die Präsidentschaftskandidaten, die gegen van der Bellen antreten, aufs Korn nimmt. Der Kandidat Tasillo Wallentin füge sich „nahtlos ins gedankliche Umfeld der anderen Verquerdenker-Kandidaten“, meint Scheuba und fährt fort: „Von deren Haltung zum Thema Impfung könnte Wallentin sich auch noch zu einer weiteren Ukraine-Argumentation inspirieren lassen: Der Krieg ist nicht schlimmer als eine Grippe. Bei der in der Ukraine festgestellten Übersterblichkeit ist die Frage, ob die Menschen am Krieg oder mit Krieg sterben. Anstatt sich gegen Putin zu wehren, sollten sie besser auf ihr gesundes Immunsystem vertrauen.“
Und wie so oft entlarvt die Grobschlächtigkeit der Rhetorik den groben Schlächter selbst. Im Willen zur größtmöglichen Verhöhnung und Verletzung des Gegners offenbart sich dialektisch die Verwundbarkeit der eigenen Haltung, die Achillesferse jeglicher Corona-Gläubigkeit. Denn nichts hat den schieren Willen, die Pandemie gefährlicher erscheinen zu lassen, als sie ist, drastischer auf den Punkt gebracht als die nie rechtfertigte Entscheidung, zu den Corona-Toten (und übrigens auch zu den Hospitalisierten), all jene dazuzuzählen, deren Sterben und Leiden ganz andere Ursachen hatte.
Wer sich im Krieg wähnt, dem ist jedes Mittel recht, um den Feind als Monster hinzustellen. Er ist jeglicher Verpflichtung zur Argumentation enthoben. Nur: Wer aufhört zu argumentieren, der verlernt, seine eigenen Position gedanklich zu überprüfen. Wer im Furor einer waffenstarrenden Rhetorik verbale Nebelgranaten zündet, vergisst nur allzu leicht, dass nicht wir es sind, die zur Zielscheibe von höchst realen Granaten werden. Auf eine Facebook-Flagge feuert niemand. Unser ach so schmucker Heroismus der edlen Gesinnung kostet uns nichts.
Wir sind im Begriff, in einer überaus aufgeheizten, gefährlichen Situation, das zu verlieren, was derzeit am dringendsten von Nöten ist: Besonnenheit. Eine buchstäbliche Abrüstung der Worte wäre ein erster Schritt dahin.