Corona in Schwarz-Weiß

Eine Ö1-Moderatorin versucht den Riss in der Gesellschaft zu erklären, den die Pandemie hinterlassen hat. Ein Zeugnis eines erstaunlich einfach gestrickten Weltbilds.

Die Pandemie ist vorbei, sie war ein tiefer Einschnitt in unser aller Leben. Sie hat die Gesellschaft in Maßnahmen-Befürworter und Maßnahmen-Gegner gespalten, in Geimpfte und Ungeimpfte. Der Schnitt ist so tief, dass eine Aufarbeitung der Ereignisse unumgänglich ist. Umso erfreulicher ist es, dass der Radiosender Ö1 sich dieser Aufgabe gestellt und eine vierteilige „Radiokolleg“-Serie dem Thema „Der Riss in unserer Gesellschaft“ gewidmet hat.

„So klingt Polarisierung“, leitet die Gestalterin Ulla Ebner den Beitragsteil zu Corona ein. Zu hören sind Ausschnitte aus zwei Reden auf einer Corona-Demonstration vom 4. Dezember 2021. Auf der einen Seite redet die FPÖ-Gesundheitssprecherin Dagmar Belakowitsch und verbreitet, so Ebner, Falschmeldungen über die Lage in den Spitälern. Auf der anderen Seite wettert die Kabarettistin Stefanie Sargnagel gegen Esoteriker, Faschisten und Verschwörungstheoretiker.

Redakteurin Ebner ordnet sich auch gleich zu Beginn selbst in diese Zweiteilung der Welt ein, dafür lässt sie ein Gegenüber namens Arthur zu Wort kommen, das sie folgendermaßen einführt: „Weder ich noch mein alter Bekannter Arthur waren am 20. Dezember auf der Straße. Aber wenn, dann wären wir mit Sicherheit nicht auf dieselbe Demo gegangen.“ Die Fronten sind also geklärt, etwaige Berührungspunkte kategorisch ausgeschlossen.

Wer ist nun dieser Arthur, was macht ihn zum Parade-Antagonisten für die Moderatorin? Ebner nennt ihn ihren „Lieblings-Verschwörungstheoretiker“. Und Arthur ist fürwahr ein Prachtexemplar dieser Gattung. Denn er ist nicht nur ein Gegner der Corona-Maßnahmen, sondern hegte schon vor der Pandemie ein Misstrauen gegen „die da oben“. Er ist Anhänger einer esoterischen Lehre namens „Freie Energie“ und bekundet am Ende noch Sympathien für starke Männer wie Herbert Kickl, Donald Trump oder Wladimir Putin, der uns mit seinen Gas-Lieferungen den Wohlstand gebracht habe. Experten hält er prinzipiell für „Trottel“.

Und da Arthur in Ulla Ebners Beitrag die einzige Stimme aus der Welt auf der anderen Seite des Risses bleibt, muss er zwangsläufig als repräsentativ für diese Szene angesehen werden, so typisch, dass in der Sendung Soziologen und Meinungsforscher zu Wort kommen, die erklären, warum es Menschen wie Arthur eigentlich gibt.

Die Soziologin Carolin Amlinger etwa hat „mit vielen Menschen wie Arthur gesprochen“ und definiert ihn als Vertreter einer neuen politischen Strömung: der „libertären Autoritären“. Das sind Menschen, die die Notwendigkeit der Corona-Maßnahmen nicht eingesehen haben, weil sie, so Amlinger, „ein merkwürdiges gekränktes Freiheitsverständnis haben, und das in einer Gesellschaft, die ja eigentlich so frei ist wie nie zuvor“. Autoritär seien diese Libertären, weil sie „oft sehr aggressiv auftreten gegenüber jenen, die ihrem Freiheitsverständnis nicht zustimmen“. Das unterscheidet Arthur in der Tat von all den Maßnahmen-Befürwortern, die in Sachen Corona ein geradezu übermenschliches Ausmaß an Toleranz und Dialogbereitschaft mit Andersdenkenden an den Tag gelegt haben.

Aber es sind nicht nur libertäre Autoritäre, die auf der anderen Seite des Risses stehen, eine andere Gruppe identifiziert ein Meinungsforscher in Ebners Beitrag als „kosmopolitische Individualisten“. Das sind Vertreter eines jüngeren Lifestyle-orientierten Milieus, die permanent an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Und da die Corona-Maßnahmen sie an ihrer Lifestyle-Pflege und Ego-Optimierung gehindert haben, wurden sie zu Teilnehmern an den Corona-Demos.

Ich fasse zusammen: Menschen auf der anderen, der falschen Seite des Corona-Grabens sind entweder einfach strukturierte Verschwörungstheoretiker wie Arthur oder asoziale Narzissten mit einer ausgeprägten Liebe zum Lifestyle.

Im Gegensatz zu Arthur und Ulla Ebner habe ich selbst an der besagten Demonstration vom 20. Dezember teilgenommen. Nach Ebners profunder Analyse habe ich nun die Wahl: Entweder ich habe ein intellektuelles oder ein charakterliches Defizit, im schlimmsten Fall sogar beides. Eine mögliche Alternative ist nicht denkbar, sie taucht in Ebners Beitrag nicht einmal am Horizont auf.

Ich bekenne: Ich war jahrzehntelang ein treuer Ö1-Hörer, der Sender hat täglich für Stunden meinen Alltag begleitet. Auch wenn ich jetzt sicher einigen geschätzten Moderatoren Unrecht tue: Beiträge wie der von Ulla Ebner haben dafür gesorgt, dass ich den Sender heute nicht mehr hören kann. Ich ertrage diese Vereinfachung der Dinge in Sachen Corona nicht mehr, diese simple Einteilung der Welt in die Feinen, Guten und Gebildeten auf der einen und die Dämlichen, Defizitären und Verblendeten auf der anderen Seite. Diese Haltung hat dazu geführt, dass während der Pandemie von Anfang an nur eine Seite des wissenschaftlichen Spektrums zu Wort kam. Wer auf der richtigen Seite des Risses stand, war die Wissenschaft. Der Rest war irgendetwas anderes, das nicht die geringste journalistische Redlichkeit verdient. Man nehme seinen Lieblings-Verschwörungstheoretiker, entlocke ihm ein paar plakative Statements, und schon ist das eigene Welt- und Selbstbild aufs Neue zementiert. Streckenweise wirkt der Radio-Beitrag wie eine „Alltagsgeschichten“-Reportage über eine Person aus dem einschlägigen Milieu, die dann für aufgeblasene soziologische Thesen zur Stützung des herrschenden Corona-Narrativs herhalten muss.

Es ist immer heikel, wenn ein Wohlfühlbad auf der richtigen Seite das eigene Denken und Abwägen ersetzt. Wer ein so komplexes Phänomen wie Corona und unsere Reaktionen darauf in ein derartiges Schwarz-Weiß-Schema presst, den bestraft der Weltgeist mit Dialektik. Denn im Grunde sind die Ö1-Modertorin Ulla Ebner und ihr guter Bekannter Arthur nur zwei Seiten einer Medaille: Beide haben ein einfach gestricktes Weltbild, hart an der Grenze zur Primitivität.

Da wundert es nicht, dass gelegentlich der Blick fürs Naheliegende verloren geht. Als Ulla Ebener in ihrem Beitrag den Meinungsforscher Pawel Zerka von European Council of Foreign Affairs zu dem Thema befragt, ist der zunächst überrascht darüber, dass sie mit ihm über die langfristigen Folgen der Pandemie für unsere Demokratie sprechen will. „Warum?“, meint er, „hat doch alles gut funktioniert mit den Maßnahmen. Jetzt ist es vorbei, kein bleibender Schaden entstanden.“ Doch dann fällt ihm ein: „Oh, stimmt, Sie kommen ja aus Österreich.“ Denn laut Euro-Barometer sei das Vertrauen in das System in den meisten europäischen Ländern stabil geblieben, in Deutschland und Österreich hingegen ist es gesunken. Der Grund: „In Österreich spielt das individuelle Freiheitsgefühl eine große Rolle.“ Ach, tatsächlich? Wie oft habe ich auf Ö1 kritische Beiträge gehört über die starke obrigkeitsstaatliche Tradition in Deutschland und Österreich. Alles vergessen, dieser Gedanke existiert in Ebners säuberlich geordneter Welt gar nicht mehr, er passt nicht ins Narrativ.

Dabei hat Deutschland immerhin einen Corona-Fanatiker wie Karl Lauterbach zuerst zum Talk-Show-Liebling und dann zum Gesundheitsminister gekürt. Und Österreich hat als einziges Land Europas die allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren beschlossen – mit allen Stimmen der Opposition, außer den Stimmen jener Partei, die allenfalls libertär-autoritäre Typen wie Arthur wählen.

Frau Ebener hätte bei dieser Wahl ohne Zweifel für das Richtige gestimmt, denn sie war immer schon schon auf der richtigen Seite, dort, wo die Welt „so frei ist wie nie zuvor“.