Der grüne Sündenfall

Bilanz eines ehemaligen Grünwählers. Eine Streitschrift.

Ich werde jetzt ein Geheimnis lüften, ein Wahlgeheimnis. Mein Wahlverhalten der letzten Jahrzehnte war denkbar simpel und berechenbar. 1983 habe ich bei der Wahl zum Deutschen Bundestag die SPD gewählt, warum, weiß ich nicht mehr genau. Bei allen anderen Wahlen habe ich mein Kreuz bei den Grünen gemacht. Der Grund für mein Wahlverhalten liegt in meiner Naturverbundenheit. Die Grünen waren für mich die einzige Partei, die sich glaubwürdig gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensräume gestellt hat. Dass die Partei überdies für Pazifismus, Feminismus und Anti-Rassismus stand, machte sie für mich zusätzlich attraktiv.

Ich erinnere mich noch gut an das Aufbruchgefühl von 1998, bei der Bildung der ersten rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder, nach der schier endlosen Ära Kohl. Ebenso lebhaft in Erinnerung ist mir allerdings meine Befremdung über die damalige grüne Galionsfigur, Joschka Fischer. War er als hessischer Umweltminister noch in Turnschuhen zum Amtseid angetreten und dann spektakulär zurückgetreten, als er sich in Nuklearfragen nicht durchsetzen konnte, erfand er sich beim Regierungsantritt als frisch gebackener Außenminister neu. Im feinen Nadelstreif inszenierte er sich medienwirksam auf Augenhöhe mit US-Amtskollegin Madeleine Albright und praktizierte eiserne Bündnistreue.

Ergebnis seiner Neuerfindung war eine deutsche Beteiligung an zwei Kriegseinsätzen – zuerst im Kosovo, inklusive Bombardierung mehrerer serbischer Städte, und dann in Afghanistan im sogenannten „Krieg gegen den Terror“.

Damals kam erstmals ein Phänomen ans Licht, das sich bei der zweiten grünen Regierungsbeteiligung während der Corona-Zeit noch bedenklicher zeigen sollte: ein demonstrativer Übereifer beim Bewältigen des vermeintlich Notwendigen, eine streberhafte Beflissenheit, als könne man jetzt endlich beweisen, dass man sich vom anarchischen Barrikadenkämpfer zum verlässlichen Systemträger weiterentwickelt habe.

Das alles verhinderte nicht, dass ich während der Ära Merkel weiterhin die Grünen wählte. Doch mein Wahlverhalten hatte etwas Mechanisches bekommen. Der Umweltgedanke hatte für mich derart unbedingte Priorität, dass ich mir jedes Abwägen und Prüfen ersparen zu können glaubte. Am Ende wählte ich die Grünen, ohne ihre Funktionäre und Programme wirklich zu kennen. Bestärkt wurde dieses Schweben über den politischen Niederungen noch dadurch, dass ich als deutscher Staatsbürger mein Wahlrecht zwar in Deutschland ausübte, aber seit 1988 in Österreich lebte. Gewiss hätte ich auch in Österreich die Grünen gewählt, aber so war ich befreit von der Zumutung, Kandidaten wählen zu müssen, die ich besser kannte, aber wenig überzeugend fand.

Politische Phlegma

So bildete sich die Saturiertheit eines Stammwählers heraus. Es war wie die Zugehörigkeit zu einer Religion, der man nur noch insofern verbunden ist, als man aller vier Jahre beim Hochamt in der Wahlkabine sein Kreuz macht. Ein politisches Phlegma, auf das ich rückblickend nicht stolz bin.

Der Umweltschutzgedanke erweiterte im Laufe der Jahre seinen Horizont. Richtete sich der Kampf anfangs gegen punktuelle Umweltsünden wie den sauren Regen, das Ozonloch oder ein atomares Zwischenlager, so weitete sich mit dem Klimawandel der ökologische Auftrag ins Universale. Denn das klimaschädliche CO2 ist ein Verbrennungsprodukt, es entsteht bei so gut wie jedem industriellen Produktionsvorgang und bei aller Art von Transport und Verkehr. Statt dem Schutz der Umwelt stand plötzlich die Rettung der Welt auf der Agenda. Mein grünes Wahlkreuz war zum Kreuzzug gegen die Apokalypse geworden.

Der Dünkel der Bobos

Alles Missionarische birgt einen Dünkel in sich, der einen berechtigt, auf die noch nicht Bekehrten herabzuschauen. Man konnte doch unmöglich warten, bis auch der letzte uneinsichtige Trottel begreift, was er mit seiner Wohlstandsverwahrlosung anrichtet. Es ist schon eine Krux mit der Demokratie, wenn es um die Rettung des Planeten geht.

Die Träger des Missionsgedankens bildeten allmählich eine gehobene Klasse, die „Bobos“. Als Bourgeois verachtete man den Pöbel mit seinen primitiven Konsumbedürfnissen. Gleichzeitig war man als Bohemien ein verfeinerter Genießer und grüner Konsument. Zwar hinterließen die Bobos mit ihren vielen Fernreisen einen ökologischen Fußabdruck, von dem der Öko-Kretin mit seinem SUV nur träumen konnte, doch diesen Widerspruch löste man mit Nonchalance: Wir Missionare der Weltrettung haben beim Fliegen wenigstens ein schlechtes Gewissen! Wir kaufen darum nur beim Biomarkt ein, trennen Müll und wählen die Grünen.

Mehr als zwei Jahrzehnte sollten vergehen, bis das grüne Milieu und seine Funktionäre ihre große Stunde bekommen sollten. Inzwischen war eine lebhafte ökologische Jugendbewegung herangewachsen, die aber erstaunlich rasch eine düstere Akzentverschiebung erfahren sollte: von der expliziten Zukunftsausrichtung („Fridays for Future“) hin zur Endzeitstimmung einer „Last Generation“. 2021, in der Hochzeit der Pandemie, kam es in Deutschland zur Bildung einer Ampelkoalition, in der von Anfang an Umweltminister Robert Habeck und sein grüner Clan den Ton angaben. Deutschland sollte in Sachen Klimapolitik zum Musterstaat für die ganze Welt werden. Auch in Österreich, wo die Grünen zwischenzeitlich völlig abgewirtschaftet hatten, kam es zu einem unerwarteten Comeback. Wie Phönix aus der Asche segelten die Grünen 2019 im Sog der Fridays-for-future-Bewegung, stimmenstark wie nie zuvor, ins Parlament zurück, ohne dafür auch nur einen Flügel rühren zu müssen.

Dann kam Corona

Als das Virus auftauchte, waren die österreichischen Grünen in einer Koalitionsregierung mit der ÖVP und stellten mit dem Gesundheitsminister die zentrale Figur für die Pandemiebekämpfung. Natürlich musste Rudolf Anschober wie alle Verantwortlichen anfangs auf Nummer sicher gehen, als die bedrohlichen Bilder aus China und Italien auftauchten. Zumindest so lange, bis man wusste, womit man es da genau zu tun hatte. Doch anstatt die Verschnaufpause nach dem ersten Lockdown zu nutzen und für eine möglichst realistische Einschätzung der Lage eine offene Debatte mit einer breit aufgestellten Expertenrunde zu führen, übernahm man Greta Thunbergs Strategie: „I want you to panic!“. Stimmen von renommierten Experten, welche die Gefährlichkeit des Virus anders bewerteten und die Sinnhaftigkeit von Lockdowns bezweifelten, wurden entweder ignoriert oder als wissenschaftsfeindliches Geschwurbel abgetan. Zu groß war die Versuchung, sich endlich einmal von niemandem dareinreden zu lassen beim Verhängen von unpopulären Maßnahmen, die man sich ansonsten nie getraut hätte. Sie führten zu einer Einschränkung des Flugverkehrs, Drosselung der Industrieproduktion, Stillstand des gesamten wirtschaftlichen Lebens. Das Virus hatte dem Klima in die Hände gespielt, was für ein historischer Zufall!

Die Grünen waren in ihrem Element, jetzt gab es kein Halten mehr. Das Beflissene, Streberhafte der österreichischen Pandemiepolitik kam peinlich zum Vorschein, als Vizekanzler Werner Kogler sich selbst zum zweiten Platz beim Bewältigen der ersten Viruswelle auf die Schulter klopfte und nicht anstand, den Neuseeländern zum ersten zu gratulieren, als sei Gesundheitspolitik eine olympische Disziplin. Dieser Sportsgeist sollte nicht zuletzt dazu führen, dass Österreich in der Disziplin „Testanzahl pro Kopf“ zum unangefochtenen Weltmeister wurde – ein ebenso teurer wie sinnloser Aktionismus, wie sich zeigen sollte.

Gänzlich außer Rand und Band geriet der missionarische Eifer, als die Impfung auftauchte. Der Wahn, das Virus aus der Welt impfen zu können und darum die Injektion allen Menschen aufzwingen zu dürfen, kursierte gerade im grünen Milieu. Zu lange war man darin eingeübt, nicht mehr mit jedem Ignoranten diskutieren zu müssen, wenn es um die Rettung des Planeten ging. Jetzt ging es halt um die Rettung der Menschheit. Klimaleugner, Coronaleugner – alles eine Bagage! Österreich war unter Federführung eines grünen Gesundheitsministers das einzige Land Europas, das eine Impfpflicht für alle Menschen über 18 Jahren einführte. Und das zu einem Zeitpunkt, als längst offenbar war, dass die Impfung weder die Infektion noch die Weitergabe des Virus verhinderte, und überdies immer mehr schwere Fälle von Nebenwirkungen auftauchten.

Auch war die Altersgrenze von 18 Jahren ein Irrsinn, da junge Menschen von Covid kaum betroffen waren. Selbst ORF-Anchorman Armin Wolf, sonst völlig auf Regierungslinie, wenn es um scharfe Maßnahmen ging, wurde nachdenklich und fragte die grüne Klubobfrau Sigried Maurer: „Warum zwingen Sie einen 30-Jährigen, sich impfen zu lassen, obwohl sein Risiko, einen schweren Verlauf zu bekommen, sehr gering ist?“ Maurers Antwort verrät ein geradezu gemeingefährliches Ausmaß an Uninformiertheit: „Das Risiko ist für alle möglichen Bevölkerungsgruppen ähnlich groß.“ Wolfs Zwischenruf („Das stimmt ja nicht!“) ging unter in Maurers zweiter Aussage, die nicht weniger haarsträubend war: „Die Impfung erfüllt beide Zwecke, nämlich den eigenen Schutz und den Schutz der Menschen im eigenen Umfeld.“

Unterste Schublade

Hier wird die Ignoranz einer politischen Kaste sichtbar, die allzu lange gewöhnt war, die eigene Überzeugung nicht an den Niederungen der Realität überprüfen zu müssen. Als Zehntausende Demonstranten gegen die Maßnahmen und die Impfpflicht auf die Straße gingen, verstanden die Grünen die Welt nicht mehr. Die deutsche Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt twitterte: „Die Taktik von den Querdenker:innen ist es, sich Stück für Stück die Straße zu erkämpfen.“ Die Polizei müsse im Zweifelsfall Schlagstöcke und Pfefferspay einsetzen. „Wir dürfen ihnen kein Milimeter überlassen!“ In Österreich griff Werner Kogler in die unterste Schublade und äußerte keinerlei Verständnis dafür, wenn „Staatsverweigerer, Demokratiefeinde, Neonazis und Neofaschisten in unseren Städten herumspazieren“. Hier entlud sich all der Dünkel, der sich aufgestaut hatte.

Zwar hatten auch alle anderen Parlamentsparteien bis auf die Freiheitlichen der Impfpflicht zugestimmt, auch sie riefen wider besseres Wissen eine „Pandemie der Ungeimpften“ aus, aber gerade für die Grünen, die immer den offenen Diskurs und den Schutz der Minderheiten hochgehalten hatten, war es eine Schande. Es war der absolute Tiefpunkt grüner Politik.

Auch in Deutschland setzten sich die Grünen vehement für eine generelle Impfpflicht ab 18 Jahren ein. Sie scheiterte nur daran, dass man sich mit der Opposition nicht auf einen gemeinsamen Gesetzestext einigen konnte. Dafür übte man sich umso eifriger im Diffamieren der Ungeimpften. Grüne Funktionäre überboten sich geradezu in der Erfindung neuer Schikanen und Ausgrenzungen. Noch von der Oppositionsbank aus forderte der jetzige Wirtschaftsminister Robert Habeck das Ende der Grundrechte für alle: „Es wird einen Unterschied geben im Zugang von Rechten und der Freiheit des Lebens zwischen den Geimpften und Ungeimpften.“ Die grüne Parteichefin Ricarda Lang erhob die Gegner der Impfpflicht gar in den Rang von Staatsfeinden: „Wir dürfen uns in der Debatte um die Impfpflicht nicht von einem kleinen Teil der Bevölkerung treiben lassen, der sich stark radikalisiert hat, der sich gegen staatliche Verwaltung als solche stellt und womöglich Polizistinnen oder Journalisten angreift.“ Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, drohte Ungeimpften offen mit der Zerstörung ihrer sozialen Existenz: „Wir müssen im Notfall Menschen mit Geldauflagen zum Impfen bewegen. Das, was wir jetzt mit 2G haben, wird greifen, der Zugang von Arbeitsplätzen ist betroffen. Das ist eine Frage der Ausgestaltung. Aber ich will nichts ausschließen, was im Rahmen der Verfassung möglich ist.“

Ich, ich, ich!

Im Strudel dieser Radikalisierung wollte sich auch die Parteijugend nicht lumpen lassen. Da ihr das Im-Recht-Sein in die Wiege gelegt wurde, brauchten sie nur noch ihre Befindlichkeit mitzuteilen. So beklagte die grüne Jungabgeordnete Emilia Fester, worauf sie während der Corona-Zeit nicht alles verzichten musste: Uni, Auslandsreisen, Feiern, Tanzen, unbekannte Menschen küssen. „Ich war, verdammt noch mal, nicht einmal im Club!“ Ich, ich, ich! Natürlich gründete ihr Verzicht, den sie nur „aus „Vorsicht und Rücksicht“ geleistet hatte, in altruistischer Moral: „Weil wir bereit sind, unserer Freiheit für das Leben anderer Menschen zu geben, vulnerable Gruppe zu schützen. Das war und das ist unsere Solidarität.“ Aber dann reißt Fester endgültig der Moralfaden: „Ich fordere jetzt den Pay-Back. Ich will meine Freiheit zurück! Nicht die Impfpflicht ist die Zumutung. Sondern keine Impfpflicht ist die Zumutung.“ Ja, das ist fürwahr das Wesen altruistischer Solidarität: Man verlangt dafür einen „Pay Back“ und fordert sie von anderen ein.

Die sanfte Altherren-Variante dieser schrillen Ich-Suada bot übrigens in Österreich der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober bei seiner Rücktrittsrede. Auch da sprach ein gequältes Ich, aber es war ein müdes Ego, ausgebrannt im Dauerkampf gegen das Virus. In akribischer Detailfreude schilderte Anschober die Symptome und Stadien seines Burnouts im Amte und verlor kein Wort über den Umstand, dass er als grüner Minister für die schwersten Grundrechtseinschränkungen der Zweiten Republik verantwortlich war. Und niemand schien sich darüber zu wundern.

Zu guter Letzt noch eine grüne Wortmeldung aus Deutschland, in der die autoritäre Arroganz mit unverblümtem Zynismus zu Tage tritt. Katrin Göring-Eckard, Vizepräsidentin des Bundestags, wandte sich in der Debatte um die Impfpflicht an die Abgeordneten der AFD: „Es gibt ja einige Ihnen besonders Nahestehende, für die die allgemeine Impfpflicht, das Impfen überhaupt, immer ein Riesenproblem war. Für die wird es jetzt ein bisschen einfacher. Da gibt es nämlich eine Anweisung, und dann muss man das machen.“

Der Weihrauch der Rechtgläubigen

„Ein bisschen einfacher“ haben es sich vor allem die Grünen selbst gemacht, immer einfacher und einfacher, bis man sich endgültig über die mühsamen Niederungen des Diskurses erhaben fühlte. Als Grünwähler kenne ich dieses Gefühl nur zu gut. Aber die drei Corona-Jahre haben für mich eine ungeheure Desillusionierung mit sich gebracht, meine Blase ist geplatzt. In gewisser Hinsicht bin ich für diese Erfahrung dankbar, denn sie hat mich aus meiner Saturiertheit gerissen und mir noch einmal Sinn und Wesen der Demokratie vor Augen geführt. Ohne einen Diskurs im herrschaftsfreien Raum ist demokratische Partizipation nicht möglich.

„Coronaleugner“ und „Klimaleugner“ sind die Kampfbegriffe, mit denen man sich jeden Diskurs vom Leib hält. Die jüngste Variante dieser toxischen Begriffe ist der „Putin-Versteher“. Er trifft derzeit jeden, der auch nur die Stirn runzelt, wenn Deutschlands grüne Außenministerin Annalena Baerbock die pazifistische Tradition der Grünen in die Tonne tritt und verkündet: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland!“ Wir? Wer ist wir? Wir Deutschen, wir Grünen, wir Guten? Oder am Ende nur die platte Pluralform all jener Ich-Blasen, die, gefüllt mit dem Weihrauch der Rechtgläubigen, von ihren Kreuzzügen nicht mehr lassen können.

Kritiker von Waffenlieferungen an die Ukraine als Kollaborateure zu bezeichnen, wie der grüne Bundespräsident Van der Bellen es getan hat, ist fahrlässig. Gerade der höchste Amtsträger des Landes hätte die Aufgabe, die tiefen Gräben in der Gesellschaft zumindest so weit zu überbrücken, dass wir wieder auf Augenhöhe miteinander reden können. Dass wir die Bereitschaft verloren haben, dem anderen mit Argumenten statt mit Arroganz zu begegnen, ist die wahre Bedrohung für die Demokratie.