Im April 2020 wurde Bundeskanzler Kurz gefragt, ob die soeben eilig beschlossenen Covid-19-Gesetze und -Verordnungen womöglich nicht verfassungskonform seien. Seine Antwort: Bis eine Überprüfung durch die Höchstgerichte stattgefunden habe, würden sie eh nicht mehr in Kraft sein. Damit könnte man jeden Verfassungsbruch rechtfertigen, sofern er nur zeitlich begrenzt ist. Leider spiegelt seine unverblümte Antwort eine allgemeine Sorglosigkeit im Umgang mit den Grundrechten während der Pandemie wider.
Umso wichtiger ist es, an den Wert von Grundrechten zu erinnern. Christian Felber, Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie, hat dem Thema jetzt ein ganzes Buch gewidmet: Lob der Grundrechte. Darin listet er mehr als ein Dutzend Grundrechtseinschränkungen auf, die sich während der Corona-Pandemie ereignet haben. Es waren die schwersten Eingriffe der Nachkriegszeit, Felber nennt sie einen „Herzstillstand der Demokratie“.
Zeitweise Einschränkungen des Grundrechts aufgrund eines erklärten Gesundheitsnotstands sind zwar zulässig, nur müssen sie angemessen, alternativlos und wissenschaftlich begründet sein. Und vor allem: Ihr Nutzen muss größer sein als ihr Schaden. War das der Fall?
Der Public-Health-Experte Martin Sprenger zieht im Vorwort zu Felbers Buch eine vernichtende Bilanz: „Zu keiner dieser unzähligen, während der Corona-Pandemie verordneten nicht-medikamentösen Maßnahmen gibt es methodisch hochwertige, wissenschaftliche Nachweise, dass die erwünschten Effekte größer waren als die unerwünschten.“
Blicke über den Tellerrand
Felber dokumentiert Sprengers Bilanz durch eine Analyse der offiziellen wissenschaftlichen Begründungen und durch eine Beschreibung der verheerenden Kollateralschäden, die die Maßnahmen nach sich gezogen haben.
Ein Beispiel: In Deutschland starben in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt neun Kinder an Covid-19, alle mit schweren Vorerkrankungen. Dagegen landeten allein im zweiten Lockdown 92 Kinder nach Suizidversuchen auf der Intensivstation, gegenüber 32 im Durchschnitt der drei Jahre vor der Pandemie. Die Schulen wurden geschlossen, obwohl Studien belegten, dass Kinder wenig zur Verbreitung der Pandemie beitrugen. Felbers Verständnis von Grundrechten und Allgemeinwohl macht aber nicht an den Landesgrenzen halt. So führten die Corona-Maßnahmen weltweit zu einer Zunahme der Unterernährung, rund 96 Millionen Menschen litten, verursacht durch das Pandemiemanagement, zusätzlich an Hunger.
Solche Blicke über den Tellerrand spielten in der öffentlichen Abwägung von Nutzen und Schaden keine Rolle. Das lag daran, dass bei der Pandemiebekämpfung eine Strategie gewählt wurde, die den Blick verengt: das Schüren von Angst. Nicht Beruhigung und Besonnenheit prägten den Krisendiskurs, sondern Panik und Kriegsrhetorik. „Dann kamen die Bilder aus Bergamo“ ist bis heute ein Standard-Topos in der Corona-Erzählung. Nur selten folgt jedoch die Frage, was hinter diesen Bildern steckte. Auch dazu liefert Felber eine Analyse.
Diese Verengung betraf nicht zuletzt die Leitmedien und die Wissenschaft. Expertenstimmen, die vom Angstnarrativ abwichen, wurden entweder ignoriert oder diffamiert. Das hat zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt, zu einem gefährlichen Vertrauensverlust in Politik, Medien und Institutionen.
Argument statt Anfeindung
Eine echte und gut dokumentierte Aufarbeitung all dieser Verwerfungen hat bis jetzt noch nicht einmal begonnen. Wenn sich Politik, Medien und Gesellschaft in hoffentlich naher Zukunft dazu bereitfinden, dann bietet Felbers Buch dafür eine gute Diskussionsgrundlage. Es ist klar argumentiert und verständlich geschrieben, alle Aussagen sind mit externen Links auf der Verlags-Homepage belegt.
Felber entwickelt Thesen, wie es zu alldem kommen konnte und wie man die Grundrechte künftig besser verankern könnte. Womöglich irrt er ja in manchen Punkten. Dann auf zur Widerlegung! Die Debatte ist eröffnet, aber diesmal mit Argumenten statt mit Anfeindungen, als offener Diskurs im herrschaftsfreien Raum. Die Grundrechte sind eine solche Aufarbeitung wert, sie sind kein Luxusgut für gute Zeiten, keine Demokratiefolklore, die ihren Sinn verliert, sobald eine Krise ausbricht. Im Gegenteil, gerade in einer Notlage sind sie der Kompass, der die Bürger vor überschießenden Eingriffen schützt.
Der Text ist am 5. April 2025 im Standard erschienen.