Ein derart tiefgreifendes Ereignis wie die Corona-Pandemie hinterlässt einen Einschnitt in den Zeitläuften. Hier ist ein mentaler Graben entstanden, der jetzt bereits den Rückblick in ein Davor und ein Danach scheidet. Das wird nirgendwo sichtbarer als auf dem Feld der Sprache, die stets ein sensibler Seismograph für gesellschaftliche Umwälzungen ist. Wortneuschöpfungen sind entstanden, etwa der Superspreader, der Covidiot, oder die Zeugen Coronas. Besonders aussagekräftig sind Bedeutungsverschiebungen von Begriffen, vor allem dann, wenn ein Wort, das bislang positiv konnotiert war, plötzlich zum Schmähwort wird.
Genau das ist mit dem Wort „Querdenker“ geschehen. Bis zum Auftreten von Corona galt der Querdenker als eine Bereicherung des Geisteslebens. Stellvertretend dafür ein Zitat aus Vince Eberts Buch „Machen Sie sich frei“: „Kein Mobiltelefon, kein Notebook, kein GPS wäre je erfunden worden, wenn nicht Querdenker wie Einstein, Bohr oder Planck ihre Genialität darauf verwendet hätten, jahrhundertealte Vorstellungen über Raum und Zeit umzustürzen.“ Es gab sogar eine Zeitschrift mit dem Titel „Querdenker“, die sich mit Methoden des kreativen Denkens beschäftigte und die 2010 mit dem Innovationspreis der Deutschen Druckindustrie ausgezeichnet wurde.
Doch seit Corona ist alles anders. Im Dezember 2021 wurde das Wort in Österreich zum Unwort des Jahres gewählt. Die Jury begründete ihre Wahl so: „Heute sind in dieser neuen Gruppe von Querdenkern überwiegend Corona-Leugner, Impfverweigerer und Verschwörungstheoretiker zu finden.“
Früher befand sich der Querdenker in vornehmer Wortgesellschaft, es gab unbequeme, kreative, notorische, politische, mutige oder intellektuelle Querdenker. Heute hingegen tippt man ihn nur noch mit spitzen Fingern in die Tasten, versieht ihn mit Anführungszeichen oder hängt ihm ein despektierliches „sogenannte“ an.
Es ist abzusehen, dass die Anführungszeichen bald verschwunden sein werden, sie sind nicht mehr nötig, denn der Begriff ist kontaminiert. Jetzt scheint ein Bedeutungshorizont auf, der dem Wort „quer“ immer schon zu eigen war. Der Querdenker ist zum Querkopf geworden, zum Quertreiber, der gefährliche Querschläger produziert.
Der Bedeutungswandel markiert eine Gesellschaft, die sich darauf eingeschworen hat, dass ihr künftig bei der Bewältigung von Krisen nichts und niemand mehr in die Quere kommen darf. Und wer alles Querende negiert, blickt nicht mehr nach links und rechts. Er ist in einem Denktunnel gefangen. Zu einer derart verengten Sicht bekannte sich bereits im Sommer 2020 explizit der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, als er die Corona-Maßnahmen der deutschen Regierung für sakrosankt erklärte: „Diese Maßnahmen dürfen nicht hinterfragt werden!“
Ins gleiche Horn blies unlängst der deutsche Virologe Christian Drosten, der vom „Handelsblatt“ zum „Corona-Aufklärer der Nation“ gekürt wurde. In seinem Podcast fordert Drosten ein Ende des „Geschnatters“ in der Wissenschaft. Nur noch ausgewählte Vertreter seiner Zunft, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Mandat dafür erhalten, sollten sich künftig öffentlich äußern dürfen.
Es wäre das definitive Ende der offenen Debatte in der Wissenschaft, der denkbar radikalste Bruch mit Habermas‘ Konzept des herrschaftsfreien Diskurses als Basis jeglicher Demokratie. Wir steuern sehenden Auges auf ein Regime der Denk- und Redezwänge zu. Zuerst wird dem Wort der Garaus gemacht, dann dem Denken selbst. Denn ist freies Denken nicht im Grunde immer ein gedankliches Beiseitetreten, um etwas aus einer anderen Perspektive betrachten zu können? Querdenken im besten Sinne des Wortes.