Die Pandemie ist vorbei. Die Pulverdämpfe der Propaganda lichten sich allmählich und geben den Blick frei auf das, was hinter uns liegt und was die letzten drei Jahre aus uns gemacht haben. Besser gesagt: Was wir aus uns gemacht haben.
Derzeit ist viel von Aufarbeitung der Corona-Krise die Rede. Selbst in den Maßnahmen-gläubigsten Zirkeln macht sich das verkaterte Gefühl breit, dass man womöglich hier und da übers Ziel hinausgeschossen ist. Bundeskanzler Nehammer räumt ein, man sei wohl zu „expertenhörig“ gewesen. Und man fragt sich: Wie das? Gegen Hörigkeit hätte bereits ein interessiertes Hinhören immunisiert, ein offenes Ohr für das gesamte existierende Spektrum der Experten. Der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker räsoniert öffentlich darüber, dass die Impflicht womöglich ein Fehler gewesen sei, man habe sie ohnehin nie aus Überzeugung, sondern nur aus Solidarität mitgetragen. Und man fragt sich: Spricht hier wirklich jener sozialdemokratische Politiker, der auf dem Höhepunkt des Feldzugs gegen die „Pandemie der Ungeimpften“ laut über eine Verschärfung der 2G-Regel nachgedacht hatte: Ungeimpfte Menschen sollten nicht mehr zur Arbeit gehen dürfen – was das Land in eine soziale Katastrophe gestürzt hätte.
Wer sich ein anschauliches Bild davon machen will, wie weit wir davon entfernt sind, uns über die Gräben hinweg auch nur ansatzweise über das zu verständigen, was in den letzten drei Jahren passiert ist, dem kann ich wärmstens die Diskussionssendung „Talk im Hangar 7“ auf Servus TV vom 2. März ans Herz legen. Sie stand unter dem Thema: „Tyrannei der Selbstgerechten: Nur noch eine Meinung erlaubt?“. Vertreter aus einem breit gestreuten Meinungsspektrum diskutierten über die Debattenkultur in unserer Gesellschaft.
Moderator Michael Fleischhacker stellte als konkretes Beispiel die öffentliche Außerfragestellung der 2G-Regel bzw. den Lockdown für Ungeimpfte zur Diskussion. Fleischhacker im Wortlaut: „Zu dem Zeitpunkt, als einige 100.000 Menschen vom sozialen Leben ausgeschlossen wurden per Verordnung und Gesetz, gab es keinen einzigen Wissenschaftler mehr, der nicht wusste, dass die Übertragung durch die Impfung nicht verhindert wird. Das heißt, dass ein getesteter Ungeimpfter überhaupt kein größeres epidemiologisches Risiko darstellt als ein ungetesteter Geimpfter. Die Geimpften mussten sich ja nicht testen. Es war für jeden Wissenschaftler klar, es war eine sachfremde Entscheidung.“
Zu ergänzen wäre allenfalls, was ich in meinem letzten Blog-Beitrag thematisiert habe: Da die Impfung weder Infektion noch Ansteckung verhindert hat und die Geimpften ungetestet freien Zugang zum öffentlichen Leben hatten, haben sie natürlich zur Verbreitung von Infektionen beigetragen, was zu vielen Erkrankungen und gar Todesfällen geführt hat. Die „sachfremde Entscheidung“, wie Fleischhacker sie nennt, hat nicht nur zu einer völlig unbegründeten Ausgrenzung und Diffamierung von Menschen geführt, sie war überdies ein fahrlässiger Umgang mit der Gesundheit der Bevölkerung – wider besseres Wissen.
Bemerkenswert ist, wie die Maßnahmen-Befürworter unter den Diskussionsteilnehmern auf Fleischhackers Einlassung reagiert haben. Der Journalist Heinz Sichrovsky fasst seine Sicht der Dinge in ein denkwürdiges Beispiel:
„Wenn ich auf die Straße gehe, hab ich ein Recht darauf, nicht zusammengeschlagen zu werden. Ich bin dafür, dass notwendige und wichtige Maßnahmen, nämlich das Verhindern schwerer Infektionen oder das Verhindern der Tatsache, mich zusammenzuschlagen, dass solche Maßnahmen gesetzt werden.“
Fleischhacker: „Das würden Sie gleichsetzen?“
Sichrovsky: „Natürlich!“
Ich gestehe: In solchen Momenten überfällt mich eine tiefe Ernüchterung, wenn ich an die künftige Aufarbeitung der letzten drei Jahre denke. Der Glaube versetzt offenbar auch jene Berge, die sich längst aus den zerbröselnden Narrativen der Maßnahmen-Befürworter angehäuft haben. Man kann diese Gläubigen hundertmal mit dem gut dokumentierten Argument konfrontieren: Alle Wissenschaftler, auch Maßnahmen-Befürworter wie Drosten, Kekulé, Streeck oder Stöhr, haben immer wieder betont, dass die Impfung nicht vor Infektion und Ansteckung anderer schützt. Die Gläubigen hören es, nicken verständig und sagen dann im vollsten Brustton der Überzeugung: 2G war trotzdem alternativlos, denn wir mussten uns doch vor Infektion und Ansteckung schützen!
Wie dünn und dürftig die Argumente werden, sobald der Gläubige durch die Konfrontation mit der Realität gezwungen wird, sich an die Kernsätze seines Glaubens zu klammern, kam beim „Talk in Hangar“ wunderbar in der Reaktion der ehemaligen Grünen-Chefin Eva Glawischnig zutage. Wenn keine andere Form von Evidenz mehr zur Verfügung steht, bleibt immer noch die anekdotische: Glawischnig: „Wir haben einen Nachbarn verloren, der ist gestorben. Wir haben Freunde, die haben ihre Eltern verloren. Die sind an Corona verstorben.“
Jetzt wage mal jemand, einen so persönlich von Corona betroffenen Menschen mit der pietätlosen Frage zu konfrontieren: Und was folgt daraus? Hätte ein permanenter Lockdown für Ungeimpfte diese Todesfälle verhindert? Oder eine Impfpflicht? An anderer Stelle wird Glawischnig noch persönlicher: „Ich hab einen Großvater, der hat eine Lungenvorerkrankung. Der hat eine Krebserkrankung gehabt. Ich war froh, dass er die dritte Impfung gekriegt hat.“
Immerhin wagt Fleischhacker hier den Einwand: „Darum muss man ja nicht die Leute einsperren, die sie nicht wollen.“
Glawischnig darauf: „Wer sperrt denn wen ein?“
Nun wird es wirklich heikel. Denn hier nimmt Glawischnig nicht nur das Recht der größtmöglichen Betroffenheit für sich selbst in Anspruch, sie negiert auch das Recht der anderen auf ihre eigene Betroffenheit. Der Einschluss in die eigene Glaubensblase blockiert offenbar jede Empathie für die Erlebniswelt des anderen. Immerhin wurde eine große Menschengruppe monatelang öffentlich diffamiert, unter Druck gesetzt und von jedem sozialen Leben ausgeschlossen.
Der Psychiater Raphael Bonelli erwähnt in der Talksendung eine Studie vom Dezember 2022, die in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurde. Sie hat gezeigt, dass es europaweit extreme Diskriminierungen von Ungeimpften gegeben hat, vergleichbar mit der Art, wie ansonsten Ausländer oder Minderheiten diskriminiert werden. Glawischnig darauf ungläubig: „Welche konkreten Diskriminierungen waren das denn? Hab ich deswegen eine Wohnung nicht bekommen oder eine Arbeitsstelle?“
Hier nimmt die Realitätsverdrängung bedrohliche Ausmaße an. Ja, Frau Glawischnig, es haben ungeimpfte Menschen eine Arbeitsstelle nicht bekommen! Ohne Impfung hat man in Niederösterreich im gesamten öffentlichen Bereich keinen Job mehr bekommen. Ja mehr noch, es haben Menschen wegen ihres Impfstatus ihren Job verloren. Viele haben um ihren Job gebangt, nicht nur im Gesundheitsbereich.
Die Glaubensblase, in der eine Eva Glawischnig gefangen ist, hat eine derart dichte Außenhülle, dass sie jeden Blick für die Realität versperrt. Diese Blase wird nichts zum Platzen bringen, am wenigsten ein Hinweis auf offensichtliche Tatsachen.
Psychiater Bonelli hat einen treffenden Befund für dieses Phänomen geliefert: moralischer Narzissmus. So wie der gewöhnliche Narzisst glaubt, er sei der unwiderstehlich schöne Mittelpunkt der Welt, so glaubt der moralische Narzisst, er sei das unfehlbar gute Zentrum der Gesellschaft. Bonellis Erklärungsversuch deckt sich mit dem Befund der Schweizer Psychoanalytikerin Jeanette Fischer. Sie ist der Auffassung, dass die narzisstischen Anteile, die in jedem Menschen stecken, in den Verwerfungen der Corona-Krise, der Isolation und der Selbstentfremdung, extrem verstärkt wurden.
Aus moralischem Narzissmus erwächst das Recht, mit dem Finger auf die Bösen zu zeigen und sich selbst zum Maßstab für andere zu machen. Der Lohn dafür ist das behaglich einlullende Gefühl, zur ethischen Elite zu zählen. So unendlich erhaben wähnt man sich über die Andersgläubigen, dass jede Auseinandersetzung mit all diesen Schwurblern, Covidioten und Nazis überflüssig ist.
Und wenn der moralische Narzisst sich doch einmal herablassen muss, sein Gutsein zu rechtfertigen, kann er seine Moral stets nur mit dem eigenen Ich imprägnieren. Etwas anderes steht ihm gar nicht zur Verfügung, wenn das Mittel der Diffamierung nicht mehr ausreicht. Ganz so wie Glawischnig es getan hat: „Ich habe einen Großvater, der …, wir haben einen Nachbarn, der…, ich war froh, dass…“
Das Narzisstische an dieser Moral besteht darin, dass sie nie die Grenze des eigenen Ichs überschreiten kann. Eine moralischer Narzisst ist unfähig, den anderen als leidensfähiges Wesen anzuerkennen. Opfer ist man immer selbst, nie der andere. Dem anderen überhaupt eine Leidensfähigkeit zuzuerkennen würde nur den exklusiven Platz an der Sonne des Guten gefährden. Man wäre nicht länger der Anstandsnabel der Welt, man müsste gleichsam wie ein Kind beginnen, seinen Platz im ethischen Gefüge der Gesellschaft mit den Interessen und Befindlichkeiten der anderen auszuverhandeln. Es wäre das definitive Ende der infantilen Einteilung der Welt in ein scharf abgegrenztes Gut und Böse. Und es wäre der Beginn jenes diskursiv-demokratischen Prozesses auf Augenhöhe, der für jede Aufarbeitung unabdingbar ist.