Jeder aus der bunt gemischten Gruppe der Maßnahmenkritiker hatte wahrscheinlich einen Schlüsselmoment, wo ihm dämmerte, dass am offiziellen Corona-Narrativ von Politik und Leitmedien etwas nicht stimmen kann. In meinem Fall war es der Umgang mit jenen Wissenschaftlern, die der offiziellen Regierungslinie skeptisch gegenüberstanden. Da verloren renommierte Forscher und Universitätsprofessoren, denen der Staat jahrelang die Ausbildung von tausenden Studenten anvertraut hatte, von einem Tag auf den anderen das Recht, in den Medien Gehör zu finden. Das nahm zeitweise derart groteske Formen an, dass der ORF-Info-Chef Hans Bürger sich beklagte, wie man eine interessante Diskussionssendung zustande bringen solle, wenn alle von der Redaktion ausgewählten Gäste die gleiche Meinung vertreten.
Wer eine abweichende Auffassung vertrat, war allenfalls noch ein Fall für einen Faktencheck, der – Überraschung! – jedes Mal zuungunsten der Gecheckten ausfiel. So wurden komplexe wissenschaftliche Sachverhalte zu etwas degradiert, das ein Journalist mal so flugs aus der Welt checken kann. Und dann begann ein perfider Diffamierungsmechanismus: Wissenschaftlern wie Sucharid Bakhdi, Wolfgang Wodarg, Stefan Hockerts und vielen anderen blieb, wenn sie Gehör finden wollten, nichts anderes übrig, als den Weg in die alternativen Medien zu suchen. Und genau dieser Umstand wurde ihnen dann zum Vorwurf gemacht: Schaut her, die tauchen ja nur noch in Verschwörungsforen der sozialen Medien auf (wo sie dann nicht selten auch noch gelöscht oder mit Warnhinweisen versehen wurden).
Die Wissenschaft, die sich äußern durfte, wurde von Politik und Leitmedien als letztbegründende Instanz vor sich hergetragen, um jede verordnete Corona-Maßnahme als alternativlos hinzustellen. Und zwar nicht etwa als eine plausible wissenschaftliche Postion, nein, es war immer die Wissenschaft.
In Deutschland lag während der Corona-Zeit der heilige Gral der Wissenschaft beim Robert-Koch-Institut. Was dort verkündet wurde, war sakrosankt. „Diese Regeln dürfen niemals hinterfragt werden“, sagte RKI-Chef Wieler im Juli 2022. Nun wissen wir spätestens seit der Veröffentlichung der ungeschwärzten Protokolle des RKI, dass Wielers eigene Mitarbeiter viele Maßnahmen der Regierung überaus skeptisch sahen. Die Protokolle zeigen unmissverständlich, dass innerhalb des RKI die gleichen Positionen kursierten, die ansonsten nur von den verfemten Kollegen vertreten wurden, den „Schwurblern“. Das betrifft Risikobewertung und Schulschließungen ebenso wie den Sinn der Masken, die Wirksamkeit der Impfungen und die perfide Lüge von der „Pandemie der Ungeimpften“. Eine bemerkenswerte Interpretation dieser skandalösen Diskrepanz von interner Debatte und externer Verkündigung lieferte der Philosoph Richard David Precht. Im einer Podcast-Folge von „Lanz und Precht“ über die noch geschwärzten RKI-Files deutete er die Protokolle gerade als Zeichen dafür, dass die Wissenschaft im RKI ja doch funktioniert habe. Das ist in der Tat erfreulich. Schade nur, dass die Öffentlichkeit davon nichts mitbekommen hat.
Der Skandal, den die Veröffentlichung der RKI-Protokolle aufgedeckt hat, besteht ja nicht nur darin, dass die Politik sich zwar öffentlich stets auf „die Wissenschaft“ berufen hat, in Wahrheit aber den Wissenschaftlern immer wieder vorgeschrieben hat, was sie zu verkünden hatten. Das ist keine Interpretation, es steht so explizit in den Protokollen. Nebenbei: Alle Klagen gegen die von der Politik verhängten Maßnahmen wurden vom Verfassungsgericht abgeschmettert mit dem Hinweis auf einen „sachkundigen Dritten“, nämlich die Empfehlungen des RKI. In einem funktionierenden Rechtsstaat müssten diese Urteile alle revidiert werden.
Der mindestens ebenso große Skandal besteht darin, dass die Wissenschaftler des RKI tatenlos zusahen, wie zahlreiche ihrer Kollegen diffamiert, ausgegrenzt oder entlassen wurden, obwohl diese nur die gleiche Skepsis hegten wie die RKI-Leute selbst. Ein besonnener Evidenzmediziner wie Andreas Sönnichsen etwa verlor seine Professur an der Uni Wien, weil er den Mut hatte, Bedenken öffentlich zu äußern, die im RKI nur hinter verschlossenen Türen kursierten. Wie muss sich ein Lothar Wieler gefühlt haben, als er das Dogma der Unhinterfragbarkeit verkündete, wohl wissend, dass die Mitarbeiter seiner eigenen Behörde den Sinn vieler verordneten Maßnahmen in Frage stellten? Hier haben Wissenschaftsfunktionäre ohne jedes wissenschaftliche Ethos und wider besseres Wissen agiert, mit ungeheuer weit reichenden Folgen für die Bevölkerung. Eine Rehabilitierung der diffamierten Kollegen muss der erste Schritt sein bei der Aufarbeitung dieses katastrophalen Versagens „der Wissenschaft“. Und es ist aus demokratiepolitischer Sicht schon eine ungeheure Chuzpe, dass Christian Drosten, der wissenschaftliche Berater der deutschen Regierung, allen Ernstes fordert, dass bei künftigen Pandemien nur Wissenschaftler öffentlich zu Wort kommen dürfen, die vorab von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Mandat dafür bekommen haben.
Auf welche Abwege ein Vertreter „der Wissenschaft“ geraten kann, wenn er sich außerhalb jeder öffentlichen Kontrolle wähnt, wurde im Jänner 2024 sichtbar, als drei Soziologen in Graz eine Podiumsdiskussion führten. Thema: „Gesellschaft im Ausnahmezustand – was lernen wir aus der Coronakrise?“. Leider hat die Veranstaltung nicht die verdiente öffentliche Resonanz gefunden. Dabei ist sie nichts weniger als ein historisches Dokument, sie ist auf Youtube zugänglich.
Ein Dokument ist die Diskussion deshalb, weil einer der Teilnehmer, Heinz Bude, Soziologe an der Uni Kassel, in der Corona-Zeit als wissenschaftlicher Berater der deutschen Regierung fungiert hat und erstaunlich offenherzig darüber berichtet, mit welchen Methoden die Maßnahmen der Regierung propagiert wurden. Bude war einer der Mitverfasser des Strategiepapiers des deutschen Innenministeriums vom März 2020. Es handelt sich um das sogenannte „Angstpapier“, in dem empfohlen wird, die Bevölkerung mit der Propagierung von Worst-Case-Szenarien auf die Verhängung extremer Maßnahmen einzustimmen. Da ist etwa von mehr als einer Million drohenden Todesopfern die Rede. Doch eines der perfidesten in der Reihe der Horror-Szenarien besteht in der Empfehlung, Kindern größtmögliche Angst einzujagen: „Wenn Kinder ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und die das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
In dem Papier wird die Notwendigkeit einer apokalyptischen Kommunikation mit der denkbar größten moralischen Verkommenheit der Bevölkerung begründet: „Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist. Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, denken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: ‚Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher.’“
Ich weiß ja nicht, für wie uneingestanden-unanständig Herr Bude seine Mitmenschen hält, ich unterstelle eher selten jemandem, dass er beim Ausbruch von Corona im Stillen dachte: „Super Sache, so eine Seuche! Omas Tage sind gezählt, und unser Rentenproblem ist gelöst.“ Doch wer die Menschen als so verkommen einschätzt, der hat natürlich keinerlei Skrupel, sie im Namen des Guten nach allen Regeln der Kunst hinters Licht zu führen. So bekennt Bude in der Podiumsdiskussion offenherzig, dass er der Regierung die hohe Kunst der Manipulation nahegelegt hat, um die Gefügigkeit der Bevölkerung zu erhöhen. In Minute 1:17:00 beginnt er, wie er selbst sagt, „aus dem Nähkästchen zu plaudern“: „Um Folgebreitschaft herzustellen, mussten wir ein Modell finden, das so ein bisschen wissenschaftsähnlich ist. Das war diese Formel ‚Flatten the Curve‘. Das sieht so nach Wissenschaft aus. Wir sagen den Leuten: Wenn ihr schön diszipliniert seid, könnt ihr die Kurve verändern.“
„Wissenschaftsähnlich?“ Was Bude hier in seiner rückblickenden Machttrunkenheit zugibt, ist nichts weniger als die bewusste Irreführung der Öffentlichkeit – mit all den ungeheuren Folgen für die verarschte Bevölkerung.
Es versteht sich von selbst, dass man eine solche Macht nicht so einfach aus der Hand gibt. Evaluierungen oder Studien, um die tatsächliche Gefährlichkeit des Virus und die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen? Weit gefehlt! Eine Korrektur der eigenen Postion nach der ersten Pandemiewelle war für Bude undenkbar. Denn dann hätte er die „Aufrechterhaltung politischer Autorität“ in Gefahr gesehen (Min 51): „Die Festgelegtheit können wir nicht so einfach aufgeben. Das ist, wie wenn man einen Krieg führt. Wenn man sich entscheidet, einen Krieg zu führen, kann man nicht nach drei Monaten sagen: Es gibt irgendwelche Daten, die uns sagen, das hätten wir lieber nicht machen sollen.“ Dann lieber drei Jahre lang Augen zu und durch – und dem Volk hin und wieder ein paar Happen vorwerfen, die irgendwie wie Wissenschaft aussehen.
Die Corona-Zeit hat in großen Teilen der Bevölkerung zu einem enormen Verlust von Vertrauen geführt – in die Politik, die Medien und nicht zuletzt in die Wissenschaft. Angesichts von Budes Bekenntnissen ist der Vorwurf der Wissenschaftsskepsis ja eigentlich ein Adelsprädikat. Wenn Österreichs Wissenschaftsminister ankündigt, künftig bereits an den Schulen vorbeugend gegen Wissenschaftsskepsis tätig werden zu wollen, dann wären die RKI-Files oder Heinz Budes Konzept der Wissenschaftsähnlichkeit zur Herstellung von Folgebereitschaft prächtige Lehrbeispiele.
Natürlich kann ein Wissenschaftler wie Heinz Bude das Recht auf Irreführung der Bevölkerung nicht wissenschaftlich begründen. Eine derart selbstherrliche Anmaßung, Menschen nach allen Regeln der Kunst manipulieren zu dürfen, braucht die Ermächtigung von höherer Stelle, am besten gleich von allerhöchster. So berichtet Bude in einem Interview mit der NZZ, dass er am Beginn der Pandemie angesichts der Ereignisse in Bergamo ein Erweckungserlebnis gehabt habe: „Als ich hörte, dass die Priester, die die Sterbenden in ihren letzten Stunden begleiten, selbst erkranken und sterben, da wusste ich, dass Corona in einer Reihe mit der Pest, der Cholera und der Spanischen Grippe gesehen werden muss.“ Ob Bude das Ausmaß der Bedrohung ebenso apokalyptisch eingestuft hätte, wenn nicht geweihte Priester, sondern profane Pflegekräfte gestorben wären, muss dahingestellt bleiben. Ansonsten gilt, was Bude selbst bei seinem Eingangsstatement in der Grazer Diskussion sagte: „Ich hab den Irrsinn der Leute unterschätzt. Man kann ihn ihnen nicht ausreden. Dann glauben sie nur noch mehr daran.“ Wie wahr!
Budes zweites Fazit aus der Corona-Zeit ist ein politisches. Er konstatiert eine bedrohliche Zunahme rechtspopulistischer Tendenzen. In diesem Punkt muss man ihm allerdings zugestehen, dass er weiß, wovon er spricht. Denn im Dezember 2021 empfahl Bude der Politik in einem Interview, wie man mit den Ungeimpften verfahren solle: „Klare Kante, klare Richtung! Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben. Im Grunde kann man sich nicht länger mit denen beschäftigen. Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten.“ Madagaskar? War das nicht der Ort, an den die Nazis vier Millionen Juden „verfrachten“ wollten, bevor sich sich für eine andere Lösung entschieden? Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Art von klarer Kante Heinz Bude wie Wissenschaft aussehen lassen könnte, wenn er sich einmal dazu herabließe, sich mit den Betroffenen etwas länger zu beschäftigen.