Angela Merkel ist ein zurückhaltender Mensch. Pathos und flammende Reden sind ihre Sache nicht. Doch während einer Parlamentsdebatte kurz vor Weihnachten, als sie ihre Landsleute auf neue harte Lockdown-Maßnahmen einstellte, ist es regelrecht aus ihr herausgebrochen. Da legte sie ihr Manuskript beiseite, gestikulierte wild und wurde laut. Am Ende mündete das Ganze in ein bemerkenswert persönliches Bekenntnis zur Wissenschaft. Und wie es bei spröden Menschen so ist: Wenn die Emotionen sich einmal überraschend Bahn brechen, verraten sie oft mehr, als den Bewegten lieb ist. Was war geschehen?
Betrachtet man Merkels bisherige Amtszeit, so fällt auf, dass ihre wichtigsten Entscheidungen stets Reaktionen auf überraschende äußere Ereignisse waren. Der Euro-Rettungsschirm war eine Antwort auf die Finanzkrise, der Ausstieg aus der Atomenergie eine Konsequenz aus Fukushima. Ihr legendäres „Wir schaffen das!“ war ein aus der Not geborener Appell an ihre Landleute, um die Flüchtlingskrise gut zu bewältigen. Kühne Entwürfe für die Zukunft wird sie nach ihrem Abgang nicht hinterlassen, ihre Domäne war stets die vorsichtig-pragmatische Bestandswahrung. Und die Deutschen lieben sie nicht trotzdem, sondern gerade deswegen. Angela Merkel ist die „Mutti“ gewordene Personifizierung der selbstgefälligen Gewissheit, dass die Großfamilie namens Deutschland bisher alles richtig gemacht hat. Und dass darum alles so bleiben soll, wie es war, allenfalls noch ein bisschen besser, sprich: wohlhabender.
Merkels Haltung erklärt sich aus ihrem persönlichen Werdegang. Immerhin hat sie 35 Jahre ihres Lebens in einer kommunistischen Diktatur verbracht. Ihr Bekenntnis zur Bundesrepublik ist tief authentisch, für sie war das andere Deutschland jenseits der Mauer stets das ersehnte gelobte Land. Auch ihre Haltung in der Flüchtlingskrise war nicht zuletzt von ihrer DDR-Vergangenheit geprägt. Das Leben im Mauerstaat, aus dem Tausende unter Einsatz ihres Lebens geflüchtet waren, hatte sie dafür sensibilisiert, dass man Menschen nicht so ohne Weiteres an Grenzen abweisen darf.
Merkel hat ein feines Gespür dafür entwickelt, was sie ihren Landsleuten zumuten darf. Und sie weiß genau, dass sie in der Flüchtlingskrise hart an die Grenze gegangen ist. Dafür gebührt ihr Respekt. Jetzt, in der Corona-Krise, der angeblich schwersten Heimsuchung seit Menschengedenken, muss sie den Menschen noch viel mehr zumuten. Und genau diese Zumutungen waren das Thema bei ihrem vorweihnachtlichen Ausbruch im Parlament.
Die Infektionszahlen seien hoch, beschwört sie in ihrer Rede, viele Menschen seien gestorben. Da könne man doch nicht einfach die Weihnachtsmärkte aufsperren. Und sofort wechselt Merkel die Tonlage, denn sie weiß, was sie da von ihren Landsleuten verlangt: „So hart das ist, und ich weiß, wie viel Liebe dahinter steckt, wenn Glühweinstände aufgebaut werden, wenn Waffelstände aufgebaut werden. Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir dafür den Preis zahlen, dass wir Todeszahlen von 590 am Tag haben, dann ist das nicht akzeptabel!“
Als dann noch ein Zwischenruf aus dem rechten Lager kommt, dass das alles doch gar nicht bewiesen sei, legt sie ein bemerkenswertes Bekenntnis ab: „Ich habe mich in der DDR für ein Physikstudium entschieden. Das hätte ich in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nicht getan. Weil ich sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann. Aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht – und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten, meine Damen und Herren!“
Leider herrscht über die anderen Fakten, die auch weiter gelten werden, sprich: die Fakten zu Corona, in der Wissenschaft keineswegs ein Konsens. Merkel evoziert hier die Eindeutigkeit einer außer Streit stehenden Evidenzlage, die es schlechterdings nicht gibt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Einer der weltweit renommiertesten Epidemiologen, John Ioannidis von der Stanford University, nennt die globale Reaktion auf die Corona-Pandemie ein „Evidenz-Fiasko, wie es in einem Jahrhundert nur einmal vorkommt“. Drei andere Epidemiologen von Elite-Unis in den USA haben in ihrer „Great Barrington Erklärung“ das sofortige Ende der Lockdowns gefordert. Inzwischen haben bereits mehr als 13.000 Gesundheitswissenschaftler und 40.000 Ärzte die Erklärung unterzeichnet, darunter viele aus Deutschland.
Ein anderer Teil des wissenschaftlichen Spektrums lehnt die Erklärung entschieden ab. Die Gesundheitsforscherin Deepti Gurdasani von der Londoner Queen Mary University hat als Antwort darauf das „John Snow Memorandum“ ins Leben gerufen, das die Lockdown-Strategie für sinnvoll und notwendig erklärt. Rund 4000 Wissenschaftler haben es unterzeichnet.
Die Wissenschafts-Community ist also in Sachen Corona tief gespalten. Die Eindeutigkeit, die Merkel händeringend beschwört, ist ein Mythos. Sie wird nur vorgegaukelt, erstaunlicherweise auch in den Leitmedien, wo man kritische Stimmen einfach nicht zu Wort kommen lässt. Wenn die andere Seite Glück hat, bekommt sie einen „Faktencheck“, meist werden ihre Vertreter nur als Corona-Leugner oder Verschwörungstheoretiker diffamiert. Die „richtige“ Seite erscheint in den Medien als die Stimme der Wissenschaft.
Die Kanzlerin hat von Anfang nur auf eine Position im wissenschaftlichen Spektrum gesetzt, die geradezu prototypisch durch den Virologen Christian Drosten verkörpert wird. Er passt perfekt zu Merkels Grundhaltung: In der Außenwirkung denkbar uneitel und integer, umweht von einer treuherzigen Melancholie, betrachtet er mit dem mikroskopischen Blick des Virologen das Allerkleinste und macht dabei den größtmöglichen Schaden für das große Ganze aus.
In einer Pressekonferenz Anfang des Jahres wurde Merkel von einem Journalisten gefragt, warum sie denn nur auf diese eine Position gesetzt und anderen Wissenschaftlern kein Gehör geschenkt habe. Ihre bemerkenswerte Antwort: „Es gibt ein breites Spektrum an Wissenschaftlern. Und nicht nur die, die jetzt gerade eingeladen sind, sind diejenigen, mit denen ich spreche oder mit deren Ergebnisse ich mich gerade befasse. Aber es gibt in dem Ganzen auch politische Grundentscheidungen, die haben mit Wissenschaft nichts zu tun.“ Keine Rede mehr von der Unumstößlichkeit der Naturgesetze. Ihre Grundentscheidung ist eben keine wissenschaftliche, sondern eine politische. Man wüsste nur zu gern, was die Gründe sind, die zu dieser eminent folgenreichen Entscheidung geführt haben. Doch das bleibt im Dunkeln.
Das Paradoxe ist, dass Merkel mit ihrer intransparenten Entscheidung genau jenen politischen Grundsätzen den größten Schaden zufügt, die bislang für sie heilig waren: Freiheit und Wohlstand. Das passiert, wenn man absolute Gewissheiten auf schwankendem Grund heraufbeschwört und sie nie zur Debatte stellt. Verräterisch an ihrem wissenschaftlichen Glaubensbekenntnis ist die Aussage, dass sie in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nie Physik studiert hätte. Das hätte sie auch gar nicht nötig gehabt, denn dort gab ja so viel Freiheit des Denkens, dass Merkel sich nicht an die Naturgesetze als rettenden Gedankenanker hätte klammern müssen. Da hätte man sich schon ein paar Ungewissheiten und Denkrisiken leisten können.
Doch genau in dem Moment, in dem die neue Bundesrepublik in eine schwer einschätzbare Krise ohne rasche Gewissheiten gerät, mauert die Kanzlerin sich ein und greift auf ihr bewährtes Mantra aus finsteren Zeiten zurück. Denn die politische und gerade nicht wissenschaftliche Entscheidung, eine einzige Doktrin im Dienst der reinen Lehre zur sakrosankten Wahrheit zu erklären und alle anderen wissenschaftlichen Positionen ohne jeden öffentlichen Diskurs auszusperren – kommt einem das nicht bekannt vor? Es war die Strategie, mit der das DDR-Regime sich jahrzehntelang die Existenz gesichert hat.
So bietet Merkel am Ende ihrer Amtszeit das traurige Schauspiel einer Kanzlerin, die von ihrer traumatischen Vergangenheit auf geradezu dialektische Weise eingeholt wird. Die aus der Not geborene Berufswahl, die das Regime ihr einst abnötigt hatte, verordnet sie nun ihrem krisengeschüttelten Land. Und das Fatale ist: Sie spürt es sogar, sie weiß es nur nicht.